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Tempora mutantur – nos et mutamur in illis?

Zu den Auswirkungen zivilgesellschaftlicher Megatrends auf die Betriebsverfassung

Die Zivilgesellschaften stehen vor fundamentalen Veränderungen, die zum Teil parallel und unabhängig, zum Teil aber auch überlappend und sich wechselseitig bedingend verlaufen. Insbesondere die Themenkreise, die unter den Stichworten Arbeit 4.0 und Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0 diskutiert werden, stellen zwei sogenannte Megatrends dar. Ihr Einfluss auf die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft dürften enorm sein. Typisch für den Wandel sind neben seiner fundamentalen Bedeutung seine Dynamik und seine Permanenz. Beide Trends sind maßgeblich durch die Digitalisierung entstanden und werden durch sie auch weiter mitgestaltet.

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0 bedeutet eine – in ihren soziologischen Auswirkungen wohl noch immer nicht klar abschätzbare – Veränderung der Kommunikation und der Meinungsbildung der Zivilgesellschaft. Die für jedermann leichte Zugänglichkeit des Internets und die Vielzahl der darin verewigten Informationen und Meinungen erhöht die Transparenz und vereinfacht die Meinungsbildung und Meinungskundgabe. Jeder Bürger ist über das Internet in der Lage, durch öffentliche Kritik eine Gegenmacht zu den in den arrivierten und anerkannten Medien gegebenen Darstellungen zu entwickeln. Die Gesellschaft kann interaktiv ihre gemeinsamen politischen Interessen entdecken und Einfluss auf das öffentliche Handeln nehmen. Als Beispiel für das diesbezügliche Potenzial kann der Plagiatsfall von Karl-Theodor zu Guttenberg dienen. Hier spielten Internetnutzer, die in einem Wiki gemeinsam Guttenbergs Doktorarbeit auf plagiierte Stellen untersuchten, eine wesentliche Rolle.

Arbeit 4.0 stellt die Auswirkungen insbesondere der Globalisierung, der Digitalisierung, des demographischen sowie des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in der Arbeitswelt dar. Auch hier sind die Auswirkungen noch lange nicht eindeutig beschrieben, möglichweise noch nicht einmal konkret erkennbar. Dem Ende 2016 veröffentlichten Weißbuch des Bundesarbeitsministeriums ist zu entnehmen, dass es wohl zu einem erheblichen Wandel von Branchen und Tätigkeiten kommen wird, neue Märkte und Arbeitsformen entstehen werden, sich der Rohstoffmarkt (Big Data) verändern wird, die Interaktion von Mensch und Maschine beeinflusst werden wird, in erheblichem Umfang zeit- und ortsflexibles Arbeiten ermöglicht werden wird und so bekannte Strukturen einem erheblichen Umbruch unterworfen werden.

Im Zusammenhang mit diesen fundamentalen immerwährenden Megatrends müssen sich auch HR-Manager zahlreichen fundamentalen Problem stellen. Letztlich muss geprüft werden, welche Formen der betrieblichen Zusammenarbeit, welche Qualitäten für das Vertragsverhältnis und welche Formen der Mitarbeiterbetreuung überhaupt noch fortbestehen werden. Auch für das HR-Management ist der Wandel damit strukturell, fundamental, dynamisch und permanent.

Vor diesem Hintergrund muss auch diskutiert werden, ob und inwieweit die konventionelle betriebliche Mitbestimmung noch zeitgerecht ist. In seinem Weißbuch bekennt sich das Bundesarbeitsministerium zur bedeutende Rolle der „verfassten Mitbestimmung“ bei der Transformation der zivilgesellschaftlichen Veränderungen in die Arbeitswelt. Es darf deshalb unterstellt werden, dass die Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung im Kontext mit Arbeit 4.0 eher wachsen als sinken wird.

Es kann deshalb nicht verwundern, wenn insbesondere die Gewerkschaften schon seit einiger Zeit die Notwendigkeit einer erneuten Reform des BetrVG betonen. In Abhängigkeit von politischen Mehrheiten ist zu erwarten, dass es über kurz oder lang zu einer Verschärfung der gesetzlichen Regelungen in diesem Zusammenhang kommen wird. Für Arbeitgeber und HR-Manager stellt die Prophylaxe vor übertriebenen Veränderungen bereits eine aktuelle strategische Herausforderung dar.

Wie aber können Maßnahmen aussehen, die zum einen der wachsenden Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung aufgrund der Herausforderungen des steten Wandels gerecht wird, zum anderen aber einer unangebrachten Begrenzung der unternehmerischen Freiheit angemessen entgegentritt? Ein Ansatz dafür findet sich im geltenden Recht – genauer in § 75 BetrVG.

Dieser im geltenden Recht bereits angelegte Ansatz erschließt sich allerdings nur nach Vollzug eines Paradigmenwechsels. Bisher wird die einzelnen Mitbestimmungstatbestände des BetrVG als eine Art „abschließender Regelung der Handlungsmöglichkeiten eines Betriebsrats“ verstanden. Die einzelnen Mitbestimmungstatbestände sind eine Art „Inselwelt im Ozean wirtschaftlicher Tätigkeit“. Zukünftig muss betriebliche Mitbestimmung eher als eine „Strömung“ verstanden werden.

Aus § 75 BetrVG ergibt sich der Auftrag für Arbeitgeber und Betriebsrat, durch ihre Zusammenarbeit der wechselbezüglichen Grundrechtsausübung von Unternehmer und Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis zur angemessenen Durchsetzung zu verhelfen. Bei diesem Verständnis stellen die gesetzlichen Mitbestimmungstatbestände keine Inseln mehr dar, auf denen die betriebliche Mitbestimmung ausschließlich stattfindet. Die gesetzlichen Tatbestände betrieblicher Mitbestimmung sind vielmehr durch im Gesetz verankerte Bojen gekennzeichnete, besondere Meeresabschnitte mit hoher Strömungsgeschwindigkeit. Die gesetzlichen Tatbestände konventioneller Mitbestimmung schränken an den wegen ihrer Bedeutung für den im Übrigen freien Wirtschaftsverkehr besonders definierten Stellen lediglich die Strömung ein. Über sie wird die konventionelle Mitbestimmung begrenzt. Begründet wird die gesamte Mitbestimmung nach dieser Auffassung hingegen über § 75 BetrVG.

Dabei ist die Vorstellung eines grundsätzlich uferlosen Ozeans betrieblicher Mitbestimmung nicht vollkommen neu. Schon 1956 hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG, 16. März 1956, GS 1/55) festgestellt, dass sich aus der anerkannten Bestimmung des Begriffs der Betriebsvereinbarung ergebe, dass grundsätzlich jede Regelung allgemeiner Natur, die die innerbetrieblichen Verhältnisse, sei es auf dem Gebiet der Ordnung des Betriebes, sei es hinsichtlich der Regelung der Arbeitsbedingungen, zum Gegenstand einer Betriebsvereinbarung gemacht werden könne. Daraus folge, dass jedenfalls für den Bereich der sozialen Mitbestimmung über freiwillige Betriebsvereinbarungen nahezu allumfassend Regelungen durch die Betriebsparteien getroffen werden können.

Ausgehend von § 75 BetrVG gehen die Handlungsoptionen der betrieblichen Mitbestimmung aber noch weiter. Jenseits der Betriebsvereinbarungen werden Lösungen zwar nicht durch Einigungsstellen erzwungen, durch Koppelungsgeschäfte durchgesetzt oder gar vor den Arbeitsgerichten erstritten. Vielmehr kann, etwa durch die Einbeziehung der öffentlichen Meinung in das betriebliche Geschehen via Twitter, Facebook oder Youtube, nur Einigungsdruck aufgebaut werden.

Unabhängig von der endgültigen Klärung der rechtlichen Zusammenhänge, wird vermutlich allein der Wandel in der Kommunikation und Meinungsbildung der Zivilgesellschaft dazu führen, dass auch Betriebsräte derartige Wege gehen werden. Sind mit 140 unzensierten Zeichen eines Tweets Informationen über betriebliche Belange erst einmal im Internet und damit in der Öffentlichkeit, lässt sich ihr Einfluss auf die Meinung der Verbraucher, Investoren und der gesamten Öffentlichkeit kaum mehr steuern.

Natürlich ist aber auch dieser Ozean nicht uferlos. Selbstverständlich gibt es auch für diese Form der Beteiligung, die als konzeptionelle Mitbestimmung bezeichnet werden kann, rechtliche Grenzen. Diese ergeben sich insbesondere aus der unterschiedlichen grundrechtlichen Anbindung der Protagonisten der betrieblichen Mitbestimmung und aus einzelnen Vorschriften im BetrVG. Allerdings sind diese Grenzen, schon wegen der großen Entfernung des Grundgesetzes vom betrieblichen Alltag,  bei der praktischen Ausübung der Mitwirkung kaum klar auszumachen. Um hier mehr Rechtssicherheit zu erreichen, sollten der konzeptionellen Mitbestimmung in einer als freiwillige Betriebsvereinbarung verfassten Seekarte definierte Fahrrinnen vorgegeben werden.

In einem derartigen „Koalitionsvertrag“ können etwa Regelungen vereinbart werden, die die konventionelle Mitbestimmung noch berechenbarer machen und die formelle und inhaltliche Grenzen für die konzeptionelle Mitbestimmung aufstellen. Sollten die vereinbarten Grenzen von den Betriebsparteien nicht eingehalten werden, so bleibt die Eskalation des Konflikts an die Rechtssubjekte mit jeweils gleichwertiger grundrechtlicher Stellung (Unternehmer und Gewerkschaft). Im Falle einer Havarie führte der Weg dann schließlich doch in die Einigungsstelle oder vor das Arbeitsgericht.

Es gibt daher bereits einen betriebsverfassungsrechtlich verankerten Ansatz, um strategisch einer tiefgreifenden Ergänzung des BetrVG entgegenzutreten, gleichwohl aber in der Praxis der wachsenden Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung bei der Bewältigung des Wandels unter dem Stichwort Arbeit 4.0 gerecht zu werden.

Um diesen Weg zu erkennen, ist es aber notwendig konventionelle Denkansätze zum BetrVG zu sprengen und einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Nicht nur die Zeiten ändern sich – auch die Protagonisten der betrieblichen Mitbestimmung und deren Auffassungen müssen sich ändern.



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