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Die Folgen der Digitalisierung im Koalitionsvertrag

Spätestens seit dem Ergebnis der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag sind Globalisierung und Digitalisierung in der öffentlichen und politischen Diskussion angekommen. Alle Fraktionen einer wahrscheinlichen Jamaika-Koalition sehen die Fort- und Weiterbildung sowie die Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen als wesentliche Lösung sich aus der Digitalisierung ergebender Veränderungen der Arbeitswelt. Digitaler Wandel findet aber weder auf gesetzlicher noch auf tariflicher Ebene statt. Der digitale Wandel der Arbeitswelt wird erst im Betrieb und im Arbeitsverhältnis konkret.

Die Digitalisierung wird auf betrieblicher Ebene spürbare Veränderungen hervorbringen. Auch wenn Einzelheiten noch nicht sicher vorhersehbar sind, kann mit dem Stichwort „Entgrenzung“ doch bereits vieles beschrieben werden. Veränderungen von Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsinhalt werden mit der Auflösung des klassischen Verständnisses des Betriebs einhergehen. Hierarchische und organisatorische Strukturen werden angepasst werden. Das zur Wertschöpfung notwendige Wissen wird sich ebenso ändern, wie sich der Wert und die Wertigkeit einzelner Tätigkeiten verändern werden. Die sozialen Strukturen innerhalb des Betriebs werden sich anpassen. Es droht ein Identitätsverlust. Die Entgrenzung führt zur Einschränkung der „betrieblichen Praxis“ als Mittel der Verhaltenssteuerung und -beeinflussung. Steuerungs- und Anreizsysteme für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich den veränderten Strukturen anpassen müssen. Kommt es in Zukunft dann auch zu einer Besteuerung der Wertschöpfung anstatt des Einkommens, wird dies eine noch größere Entfernung zwischen „Wertschöpfendem“ und Wertschöpfung schaffen.

Der digitale Wandel, soweit er das Arbeitsleben betrifft, muss deshalb vor allem auf betrieblicher Ebene begleitet werden. Seine angemessene betriebliche Bewältigung ist Voraussetzung für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg, ein soziales und produktives Betriebsklima und eine innovationsfreudige Organisation. Trifft die Erwartung einiger Koalitionäre zu, wonach der digitale Wandel jedes Arbeitsverhältnis bereits in den nächsten drei bis sechs Jahren erreichen wird, dann bleibt kaum noch Zeit zur Vorbereitung. Der digitale Wandel vollzieht sich jetzt, seine betriebliche Begleitung muss deshalb auch heute stattfinden.

Nun bestehen gerade in kleinen und mittleren Unternehmen oft keine qualitativ und quantitativ ausreichenden Kapazitäten, um derart komplexe Zusammenhänge im HR-Bereich sinnvoll abbilden zu können. Große Unternehmen haben in der Regel auch starke Belegschaftsvertretungen, die ihre Beteiligung einfordern werden. Zudem befördert die EU-Kommission mit ihrer konsequent verfolgten Sozial- und Wirtschaftspolitik unter dem Stichwort CSR den sozialen Dialog sowie dessen öffentliche Darstellung. Es wird deshalb notwendig und sinnvoll sein, die betriebliche Begleitung des digitalen Wandels und seiner Folgen nicht ohne die Belegschaftsvertretungen zu planen. Das gilt umso mehr, als die erwarteten Auswirkungen des Wandels zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern führen werden. Hier kann ein in den Prozess eingebundener und ihn aktiv mitgestaltender Betriebsrat beruhigend wirken und zur Sachlichkeit beitragen. Nicht zuletzt deshalb sieht auch das Weißbuch Arbeiten 4.0 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eine besondere Bedeutung der verfassten Mitbestimmung für die Bewältigung des digitalen Wandels in der Arbeitswelt.

Grundsätzlich können über die bekannten Mitbestimmungstatbestände Auswüchse digitaler Änderungen relativiert werden. Angesichts der zu erwartenden „Entgrenzung der Arbeit“ sind der Anwendung einzelner Mitbestimmungstatbestände im konventionellen Sinn jedoch Grenzen gesetzt. Wer wird auch zukünftig Arbeitnehmer sein? Wo werden die Grenzen der organisatorischen Einheit liegen, die man heute noch als Betrieb bezeichnet? Welche Maßnahme stellt den Beginn einer Entwicklung dar, die sich schließlich als eine dem digitalen Wandel geschuldete Betriebsänderung herausstellen wird? Welche Änderungen der Steuerungs- und Anreizsysteme werden benötigt und welche unterliegen der sozialen Mitbestimmung?

Sicher erfordert der digitale Wandel an jedem Arbeitsplatz eine Änderung der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Hier sieht § 97 Abs. 2 BetrVG bereits eine – bisher wenig beachtete – Möglichkeit zur paritätischen Einflussnahme des Betriebsrats auf die betriebliche Berufsbildung vor. Voraussetzung für die wirksame Realisierung dieses Rechts ist aber stets ein gestaltendes Tätigwerden des Arbeitgebers, durch das eine Diskrepanz zwischen den geänderten Anforderungen des Arbeitsplatzes und dem Ausbildungsstand der Arbeitnehmer entsteht. Zudem bezieht sich das Initiativrecht eines Betriebsrats nur auf Maßnahmen, die zur Ausfüllung des jeweiligen Arbeitsplatzes notwendig sind. Auch wenn hier vieles noch unbestimmt ist, zumindest an den Randbereichen des Tatbestandes bestehen im Hinblick auf den digitalen Wandel noch erhebliche Regelungslücken.

Jedenfalls bis zu einer Anpassung der gesetzlichen Grundlagen muss der betriebliche soziale Dialog auf grundsätzliche und methodische Ansätze zurückgreifen, um den digitalen Wandel bereits heute angemessen zu begleiten. Unweigerlich geraten hier die Grundrechte in den Blick, deren Wahrung, Förderung und Schutz den Betriebsparteien in § 75 BetrVG gemeinsam vorgeschrieben und über § 80 Abs. 1 BetrVG auch den Betriebsräten als Aufgabe zugewiesen wurden. Auch wenn sich aus §§ 75, 80 BetrVG keine neuen, gesetzlich nicht normierten Mitbestimmungstatbestände ergeben, überantworten sie doch auch die Auswirkungen des digitalen Wandels der Zuständigkeit der Betriebsvertretungen. Das gilt jedenfalls in dem Ausmaß, wie der digitale Wandel innerhalb des Arbeitsverhältnisses die Verwirklichung der Grundrechte von Unternehmen und Arbeitnehmern im Sinne der praktischen Konkordanz gefährdet.

Es liegt im Interesse beider Betriebspartner, die Anlässe für die Ausübung dieser konzeptionellen Mitbestimmung, ihre Möglichkeiten und Grenzen, sowie ihre Ziele verlässlich zu definieren. Dies zu tun, ist nicht Aufgabe einer Jamaika-Koalition in Berlin. Es ist vielmehr Aufgabe der Betriebsparteien vor Ort, in einem betrieblichen Koalitionsvertrag ein stabiles System zur Bewältigung des äußerst dynamischen digitalen Wandels und seiner unvorhersehbaren konkreten Auswirkungen auf den einzelnen Betrieb und auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Trotz der zusätzlichen Beanspruchung im Zusammenhang mit der anstehenden Betriebsratswahl 2018 sind die Weichen in Richtung Zukunft jetzt zu stellen.