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Tarifeinheitsgesetz – Fluch oder Segen für die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit?

Fast auf den Tag genau fünf Jahre nach der Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, 4 AZR 549/86, 07.07.2010) zur Tarifeinheit im Betrieb hat das Gesetz zur Tarifeinheit mit der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten am 06.07.2015 die – vorerst – letzte Hürde genommen. So sicher dieses Gesetz der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ausgesetzt sein wird, so unsicher ist die Lage in Betrieben, in denen nach dem Folgetag der Verkündung dieses Gesetzes eine Tarifkollision auftritt.

Unsicherheit entsteht nicht nur wegen der – schon im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.11.1954 (BVerfG, 1 BvR 629/52, 18.11.1954) – zumindest durchaus beachtlichen verfassungsrechtlichen Kritik an diesem Gesetz. Unsicherheit entsteht schon allein bei der Anwendung des neuen durch das Tarifeinheitsgesetz eingefügten § 4a TVG.

Maßgebend soll danach für die gesetzliche Auflösung einer Tarifkollision regelmäßig der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff sein. Das gilt auch für gemeinsame Betriebe nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG und für nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG von Tarifvertragsparteien errichtete Betriebe, solange dies nicht dem Zweck der Vermeidung von Tarifkollisionen zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrages entgegensteht.

Wer sich häufiger mit Abgrenzungsfragen im Zusammenhang mit §§ 1 ff. BetrVG beschäftigt, weiß um die enorme Vielfältigkeit denkbarer Erscheinungsformen „organisatorischer Einheiten“ und der Schwierigkeiten ihrer rechtsicheren Zuordnung zu den alternativen Formen eines Betriebes. Damit verhindert nicht nur die verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes sondern schon die Anwendung des Gesetzes selbst die gewünschte Rechtssicherheit. Es darf daher bezweifelt werden, dass das Tarifeinheitsgesetz tatsächlich und dauerhaft einen Beitrag zur Stärkung der Befriedungsfunktion und der Ordnungsfunktion in „betrieblichen Solidargemeinschaften“ leisten kann.

Wo Tarifkollisionen auch in der Zukunft auftreten, bleiben sie Risikofaktoren – für den Betriebsfrieden und für die Kalkulation der Personalaufwendungen. Es besteht also weiter Klärungs- und Handlungsbedarf für das HR-Management tarifgebundener Arbeitgeber.

Es darf auch angenommen werden, dass das Tarifeinheitsgesetz nur von vergleichbar kurzer Lebensdauer sein wird. Das BAG selbst hat bereits mit seinem Beschluss der den Grundsatz der Tarifeinheit aufgab deutlich gemacht, dass eine Tarifkollision das Ergebnis ausgeübter Koalitionsrechtsausübung tariffähiger Gewerkschaften ist. Das eine tariffähige Gewerkschaft in der Ausübung ihrer Rechte durch Art. 9 Abs. 3 GG besonders geschützt wird, ist unbestreitbar. Insofern spricht – neben weiteren Argumenten – schon viel für die Auffassung der verfassungs-rechtlichen Kritiker des Gesetzes.

Um das Problem von Tarifkollisionen zu lösen, stünde im Einklang mit dem BVerfG (BVerfG, 1 BvR 629/52, 18.11.1954) nur der Weg offen, nicht erst bei der Anwendung geschlossener Tarifverträgen anzusetzen sondern bereits bei der Feststellung der Tariffähigkeit. Wenn nur Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG als tariffähige Gewerkschaft gelten könnten, die bereits aufgrund ihrer satzungsgemäßen Mitgliederstruktur auch in der Lage sind, dem Anspruch nach Befriedung und Ordnung einer betrieblichen Solidargemeinschaft gerecht zu werden, wäre viel gewonnen. „Spezialistengewerkschaften“ die – zumeist aufgrund der von ihnen eingenommenen Schlüsselpositionen im organisatorischen Ablauf – nur Teile der Belegschaft zu ihrem eigenen Vorteil organisieren wären dann nicht mehr tariffähig. Sie könnten sich auf die Rechtsposition einer tariffähigen Gewerkschaft nicht berufen und erst keine Tarifverträge schließen. Eine derartige Regelung wäre dem Gesetzgeber wohl auch verfassungsrechtlich möglich.

Bis zur endgültigen Klärung der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das aktuelle Tarifeinheitsgesetz und bis zur rechtlich zulässigen Neuregelung der Problematik von Tarifkollisionen bleiben HR-Verantwortlichen aber uneingeschränkt gefordert.