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Konzeptionelle Mitbestimmung – Der Schlüssel zur neuen Arbeitswelt

Aktuell, an der Schwelle zu einer weiteren industriellen Revolution muss zwangsläufig die Frage gestellt werden, ob damit nicht auch eine Änderung des Systems der betrieblichen Mitbestimmung unausweichlich wird. Diese Frage ist allerdings schon deswegen nicht rechtsverbindlich zu beantworten, da bis heute nicht einmal die Notwendigkeit der aktuell bestehenden Form des Systems betrieblicher Mitbestimmung abschließend grundrechtlich geklärt ist. Es spricht aber vieles dafür, dass nicht die rechtlichen Grundlagen einer Veränderung bedürfen, sondern der Umgang mit ihnen. Das BetrVG weist in einer bis heute aus unverständlichen Gründen vielfach missachteten Vorschrift bereits den Weg in die Zukunft.

§ 75 Abs. 1 BetrVG weist Arbeitgeber und Betriebsrat eine Überwachungspflicht für alle im Betrieb tätigen Personen zu. Wie sich bereits aus einem Vergleich mit dem Wortlaut des § 75 Abs. 2 BetrVG ergibt, sind Ziel dieses Auftrages nicht notwendig Arbeitnehmer des Arbeitgebers. Einzige Voraussetzung um in den Genuss dieser Überwachung zu kommen, ist die Tätigkeit der geschützten Person im Betrieb. Schutzgut aus § 75 Abs.1 BetrVG ist die Einhaltung der Grundsätze von Recht und Billigkeit. Gesichert sind damit neben bestehenden Rechtsansprüchen des Einzelnen u.a. auch die Wertungen des Grundgesetzes und die Einzelfallgerechtigkeit.

§ 75 Abs. 2 BetrVG bezieht hingegen ausdrücklich nur Arbeitnehmer des Betriebs in seinen Geltungsbereich ein. Diese Reduzierung des Schutzbereichs belegt die unterschiedliche Intensität des den Betriebsparteien auferlegten Auftrages. Während die Überwachung aus § 75 Abs. 1 BetrVG tatsächlich gegenüber jedermann in ihrem „Herrschaftsbereich“ ausgeübt werden kann und muss, setzt der Auftrag aus § 75 Abs. 2 BetrVG augenscheinlich eine intensivere, arbeitsvertraglich bestimmte Verbindung zwischen den schützenden Betriebsparteien und den geschützten Personen voraus. Daraus kann wohl nur geschlossen werden, dass der Schutz- und Förderauftrag aus § 75 Abs. 2 BetrVG tatsächliche Handlungs- und/oder Unterlassungspflichten und -rechte auslöst, deren Grundlagen gerade in dieser vertraglichen Sonderverbindung liegen.

Wenn auch nur § 75 Abs. 2 BetrVG die freie Entfaltung der Persönlichkeit ausdrücklich als Schutzziel nennt, bedeutet dies keine Exklusivität. Auch Recht und Billigkeit beinhalten wegen ihres Bezugs zu den grundgesetzlichen Wertungen zumindest auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, einschließlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz), die allgemeine Handlungsfreiheit, und die Meinungsfreiheit.

Es lässt sich daher vereinfachend aber zulässig sagen: § 75 BetrVG schützt in unterschiedlicher Intensität alle im Betrieb tätigen Personen vor unzulässigen Eingriffen in ihre persönliche Freiheit. Da der Betriebsbegriff, keinen notwendigen Bezug zu einem Ort der Leistung voraussetzt, sondern es dabei letztlich nur auf eine Einheit ankommt, die gerade erst durch die Mittel der Betriebsorganisation zu einer Einheit geworden ist, ist der Schutzbereich aus § 75 BetrVG grundsätzlich auf alle Personen auszudehnen, die auf der Grundlage einer organisatorischen Verbindung für den Unternehmer tätig sind.

Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, dass ein Betriebsrat seine rechtliche Existenz und seine Handlungsoptionen nur einer demokratischen Wahl verdankt. Nur die Wahrung des Demokratieprinzips lässt es rechtlich zu, dass ein auf einfachgesetzlicher Grundlage existierendes Gremium die Unternehmerfreiheit tatsächlich beschränken kann. Das weite Verständnis der Anwendung von § 75 BetrVG erweitert damit selbstverständlich nicht die Anwendbarkeit der konventionellen Mitbestimmungstatbestände, die einem Betriebsrat über das BetrVG zugewiesen sind. Aber es ermöglicht auch einem Betriebsrat, die grundrechtlichen Freiheiten von Nichtarbeitnehmern zumindest grundsätzlich in den Blick zu nehmen. Da ihm dabei die Mittel der konventionellen Mitbestimmungstatbestände aber gerade vorenthalten sind, kann er dies nur konzeptionell tun.

Bisher entsprach diese Möglichkeit eher dem Grundsatz von „nice to have“, musste aber ansonsten wirkungslos bleiben. Insbesondere durch die nunmehr auch normativ anerkannte Politik der EU im Rahmen der Corporate Social Responsibility (CSR) ändert sich dies deutlich. Für den Unternehmer wird es, entweder ab 2017 unmittelbar über die neue Berichtspflicht zu nichtfinanziellen Informationen, oder zeitversetzt und mittelbar über die zur Durchsetzung der CSR-Politik besonders aufgerufenen Marktteilnehmer, Investoren und öffentlichen Auftraggeber, Pflicht, ein Konzept zu Arbeitnehmerbelangen, zu sozialen Belangen und Menschenrechten zu entwickeln und zu verfolgen. Da er in diese Konzepte auch Interessengruppen, Belegschaftsvertreter und Gewerkschaften – jedenfalls inhaltlich – einbeziehen muss, besteht über die Ausübung dieser konzeptionellen Mitbestimmung erstmals eine effektive Möglichkeit der Einflussnahme im Schutzbereich des § 75 BetrVG.

Auch Crowd- oder Clickworking gerät so in den Einfluss einer neuen konzeptionellen Form der Mitbestimmung. Die mit den immer neuen Formen der Beschäftigung verbundene Gefahr, einer scheinbar unkontrollierten, anonymen und in Teilen rechtsfreien Zone ist damit zumindest gemildert.

Es ist schon erstaunlich, wie flexibel das Recht der betrieblichen Mitbestimmung doch ist, obwohl seine Anfänge noch in der Zeit der ersten industriellen Revolution gesehen werden können. In erster Linie braucht es für die neue Arbeitswelt daher kein neues Gesetz, es braucht nur Betriebsräte und Arbeitgeber, die das bestehende Betriebsverfassungsgesetz recht verstehen und es sorgfältig, pflichtbewusst und vollständig einzusetzen wissen. Wer vor diesem Hintergrund statt selbst zu handeln, nach neuen Gesetzen ruft, oder – auch mit Blick auf die individuelle Berufssituation und deren mögliche Restdauer – einfach abwarten zu können glaubt, vergibt eine Chance zur aktiven Gestaltung der Zukunft und handelt zum Nachteil aller Beschäftigten und aller Unternehmer.

Im Übrigen lässt sich aus der Historie ausreichend belegen, dass es, sollte sich die Politik mit ihren Absichten und Vorstellungen nicht durchsetzen, am Ende doch zu einer Anpassung der gesetzlichen Vorschriften kommt. Wem das schließlich nutzen wird, ist schon wegen des noch immer nicht abschließend geklärten grundgesetzlichen Fundaments des Betriebsverfassungsgesetzes noch vollständig offen.



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